Die Sichtweise einer Mutter an der Seite ihrer Tochter
Anorexia nervosa ist eine komplexe, heimtückische Krankheit, die sich langsam in die Seele und den Körper der Betroffenen gräbt. Was jedoch oft im Verborgenen bleibt, ist der ebenso stille und unerträgliche Schmerz, den die Menschen in ihrem Umfeld erfahren. Die Mutter einer Tochter zu sein, die mit Magersucht kämpft, bedeutet, jeden Tag in einem Schwebezustand aus Hilflosigkeit, Frustration, Angst und bedingungsloser Liebe zu leben.
Wenn sich alles ändert
Zunächst scheint nichts wirklich beunruhigend zu sein. Ein paar Verzichte bei Tisch, eine Änderung der Essgewohnheiten, eine Diät, die begonnen wurde, ‚um sich besser zu fühlen‘. Als Mutter beobachten Sie das mit einer gewissen Aufmerksamkeit, ohne jedoch zu beunruhigt zu sein. Doch dann beginnen die Anzeichen, die Ihnen das Herz zerreißen: der Gewichtsverlust, die Kleidung, die sie verliert, ihr Blick, ihr Lächeln, die Lust, auszugehen.
Und zusammen mit Ihrer Tochter kommt ein unsichtbarer, aber lästiger Gast in Ihr Haus: die Magersucht.
Sie ist überall. In den schweigenden Mahlzeiten, in den täglichen Gesprächen, in den langen, spannungsgeladenen Stillephasen.
Sie sehen, wie Ihre Tochter wegdriftet, gefangen von einer inneren Stimme, die ihr sagt, dass es nie genug ist, dass sie alles kontrollieren muss, dass Essen eine Schuld ist. Und Sie fragen sich : ‚Was habe ich falsch gemacht? Was kann ich tun, um sie zu retten? Wie kann ich sie nicht verlieren?“
Ohnmacht und Schuldgefühle
Eines der zermürbendsten Gefühle ist die Hilflosigkeit. Zuzusehen, wie die Krankheit Ihre Tochter Tag für Tag verschlingt, ohne dass Sie sie aufhalten können, ist eine Wunde, die jeden Morgen wieder aufreißt. Sie versuchen, sie zu überzeugen, sanft mit ihr zu sprechen, sie mit Liebe zu umsorgen. Aber jede Geste scheint vergeblich. Im Gegenteil, sie löst oft Konflikte, Missverständnisse und Wut aus.
Und dann ist da noch das Schuldgefühl, dieser stille Begleiter, der Sie überallhin verfolgt. Sie beschuldigen sich selbst, die Signale nicht wahrgenommen zu haben, nicht aufmerksam genug, nicht präsent genug, nicht stark genug gewesen zu sein. Auch wenn Sie wissen, dass Magersucht eine Krankheit und kein Erziehungsfehler ist, kann Ihr Herz nicht aufhören, nach Schuld zu suchen.
Die Einsamkeit einer Mutter
Viele Mütter fühlen sich allein. Es ist schwierig, über Magersucht zu sprechen, besonders wenn es sich um Ihre Tochter handelt. Die Gesellschaft neigt immer noch dazu, Essstörungen zu bagatellisieren, sie auf ästhetische Fragen oder Probleme mit der Willenskraft zu reduzieren. In den eigenen vier Wänden vermeidet man bestimmte Gespräche aus Angst, die Dinge noch schlimmer zu machen. Und so wird das Schweigen zu einer Mauer.
Doch gerade die Konfrontation mit anderen Müttern, mit denen, die in ähnlichen Situationen leben, kann den Unterschied ausmachen. Selbsthilfegruppen, Familienpsychotherapie, Unterstützungsvereine sind wertvolle Ressourcen. Nicht nur, um die Krankheit besser zu verstehen, sondern auch, um sich mit dem Schmerz nicht allein zu fühlen.
Lieben ohne sich selbst zu vernichten
Wenn Ihre Tochter krank ist, drehen sich alle Ihre Gedanken um sie: „Hat sie gegessen? Was wird sie essen? Wie geht es ihr heute? Wie kann ich sie vor einem Rückfall schützen?“
Aber um ihr wirklich zu helfen, ist es wichtig, dass Sie sich selbst nicht vergessen. Sich um sich selbst zu kümmern ist kein Egoismus: Es geht ums Überleben. Sich Raum zum Atmen zu verschaffen, Ihr Leben weiter zu kultivieren, mit einem Therapeuten zu sprechen: das sind notwendige Gesten, um nicht zusammenzubrechen. Nur wenn Sie stabil sind, können Sie ein Fels für Ihre Tochter sein.
Ein langer Weg, aber möglich
Magersucht wird nicht in ein paar Wochen überwunden. Es ist eine Reise mit Fortschritten und Rückfällen, mit Tagen voller Hoffnung und anderen, an denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Aber es ist möglich, die Krankheit in den Griff zu bekommen.
Und die Rolle der Mutter kann, wenn sie angemessen unterstützt wird, zu einer tragenden Säule der Genesung werden.
Sie können lernen, ihr zuzuhören, ohne zu urteilen, für sie da zu sein, ohne sich aufzudrängen, ihr zur Seite zu stehen, ohne sich überwältigen zu lassen. Sie können die Stimme sein, die an sie glaubt, auch wenn sie das nicht mehr tun kann.
Die Mutter einer an Magersucht erkrankten Tochter zu sein, bedeutet, einen unsichtbaren, erschöpfenden und mit Hindernissen gespickten Kampf zu führen. Aber es ist auch ein immenser Akt der Liebe: zu bleiben. Auch wenn alles verloren scheint. Ihre Tochter über die Krankheit hinaus weiter zu sehen. In ihr den Menschen zu erkennen, den Sie lieben, und nicht die Pathologie, die sie unterdrückt.
Es ist nicht nur Ihre Tochter, die Hilfe braucht. Auch Sie, Mutter, brauchen Unterstützung, Verständnis und Werkzeuge, um nicht unter der Last der Hilflosigkeit und des Schmerzes zusammenzubrechen. Auch Sie haben ein Recht darauf, dass man Ihnen zuhört, Sie anleitet und sich um Sie kümmert. Nur so können Sie weiterhin die starke, stabile und liebevolle Präsenz in dem Sturm sein, den Ihre Tochter durchmacht.